Predigt zum 60. Jahrestag der Einweihung der Gnadenkirche Dachau

21.04.2024

Regionalbischof Thomas Prieto Peral

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Amen

Liebe Festgemeinde,

seit 60 Jahren gibt es hier im Dachauer Osten die Gnadenkirche. Vor fast genau sechzig Jahren, am 19. April 1964, wurde sie eingeweiht – in einem Jahr, in dem Dachau auf einen Schlag drei neue Kirchen erhielt. Für viele von Ihnen ist die Gnadenkirche zur Heimat geworden, Sie haben hier Feste gefeiert, intensive Momente erlebt, spirituelle Einkehr gefunden, vielen ist hier der regelmäßige Gottesdienst des Sonntags wichtig geworden, politische Debatten wurden hier geführt, viele Menschen bekamen Hilfe, Neugeborene wurden ins Leben gesegnet und Verstorbene zum Himmel geleitet. Alles hier in der Gnadenkirche.

Und über allem dieses große Wort: GNADE. Die Kirche der Gnade. Gnadenkirche. Für unseren evangelischen Glauben ist es eines der wichtigsten Worte überhaupt. Sola Gratia, allein aus Gnade – so nimmt Gott einen jeden und eine jede von uns an. Das ist der Kern, um dem es lutherischen Glauben geht.

Aber was ist das eigentlich – Gnade? Das Wort ist ein bisschen aus der Mode gekommen. Glaube, Liebe, Hoffnung – darüber gibt es auch alltäglich ganz viel zu reden. Aber Gnade? Wie redet man darüber? Ein untrügliches Indiz für das Fremdeln mit großen Kirchenworten sind Konfirmandinnen und Konfirmanden. Die habe ich mal gefragt, was für sie Gnade ist. Da kam manch guter Gedanken, aber einer hat es ziemlich brachial auf den Punkt gebracht: Gnade ist doch das, was die Leute in Mittelalterfilmen immer schreien, bevor ihnen der Kopf abgeschlagen wird. Das war nicht die Antwort, die ich mit erhofft hatte, aber der Junge hat trotzdem einen Punkt gemacht: Bei Gnade schwingt viel mit aus einer alten Welt, in der die einen Macht haben und die anderen machtlos sind. In der die einen richten können und die anderen das hilflos hinnehmen müssen. In so einer Welt ist Gnade ein Moment, in dem das Menschliche durchschimmern kann, Barmherzigkeit. Es ist eine Welt, in der auch Martin Luther gelebt hat und die sein Gottesbild prägte. Die Angst vor dem strafenden Gott trieb ihn um, und die Entdeckung des gnädigen Gottes war für Luther die große Befreiung und bahnte den Weg zur Reformation.

Aber heute? Reden wir im Alltag noch über Gnade? Eher selten, vermute ich. Es klingt wie ein großes Wort aus einer fernen Zeit. Und weil wir Gott sei Dank in einem Rechtsstaat leben, sind auch Begnadigungen etwas aus der Mode gekommen. Niemand muss mehr auf dem Schafott um Gnade flehen, es gibt eine Prozessordnung, Rechtsmittel, zahllose Anwälte und die Chance, bei guter Führung sogar seine Strafe zu mindern.

Aber trotzdem werde ich Ihnen heute von der Gnade Gottes erzählen, hier in der Gnadenkirche. Denn sie hat viel mehr mit unserem Leben zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Zwei Spuren will ich legen, und dann hoffe ich, dass sie auch, wie ich, der Meinung sind, dass die Gnadenkirche einen sehr aktuellen Namen trägt.

Die erste Spur: Uns mag die Gnade zwar nicht häufig beschäftigen, aber ihr dunkles Gegenstück ist täglich in den Nachrichten: die Gnadenlosigkeit. Zur Zeit ist es manchmal kaum zu ertragen, mit welcher Gnadenlosigkeit Konflikte geschürt werden und Krieg geführt wird. Es ist einfach furchtbar. Seit über zwei Jahren führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Menschen in der Ukraine. Gnadenlos werden zivile Ziele angegriffen, ohne jede Hemmung, ohne Respekt vor dem Völkerrecht. Mir tun die Menschen dort so unendlich leid.

Dann der 7. Oktober, der Massenmord der Hamas an fast 1400 Menschen in Israel. Ein Abschlachten unschuldiger Menschen, gnadenlos. Über 200 Menschen werden zudem als Geiseln genommen, über die Hälfte ist seit 200 Tagen verschollen. Für die Familien unerträglich. Der Krieg der israelischen Armee in Gaza wird jetzt mit großer Härte geführt, auch das ziemlich gnadenlos. Nur auf Drängen der Verbündeten läuft allmählich humanitäre Hilfe an – immerhin. Ich kenne Menschen in Palästina und ich kenne Menschen in Israel. Alle haben Angst. Alle leiden unter dieser Gnadenlosigkeit. Wer nur etwas Mitgefühl aufbringt, für den ist es schier zum Verzweifeln.

Recht wird durch Macht entschieden, heißt es in einem unserer Kirchenlieder, wer lügt, liegt obenauf. Das ist die Kehrseite der Gnade. Gnadenlose Macht.

In so eine Welt hinein bekennen wir Christinnen und Christen den gnädigen Gott. Sola Gratia. Nur Gnade wird uns retten. Wir glauben an die Gnade Gottes, weil der Mensch oft so gnadenlos ist. Für mich persönlich ist das der Boden, der mich trägt in diesem ganzen Kriegsgeschrei. Der Tod ist gnadenlos und die Gnadenlosen bringen Tod. Aber wir glauben an den auferstandenen Christus, an den Gott, der für uns den gnadenlosen Tod überwunden hat. Immer wieder leuchtet damit etwas Kostbares und Verheißungsvolles auf, das größer ist als dieser Wahnsinn aus Krieg und Gewalt, die Mitmenschlichkeit, das Mitgefühl, das Gespür für den Wert allen Lebens. Die Gnade.

Deshalb schreibt Paulus im 2. Korintherbrief von der Auferstehung, von Ostern und von der Gnade, die daraus wächst:

 Denn wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns auferwecken wird mit Christus und uns gemeinsam vor sich stellen wird.

Denn es geschieht alles um euretwillen, auf dass die Gnade durch viele wachse.

Das trägt diese Kirche hier im Namen: einen Glauben an das Leben, der nicht einbricht vor den Gnadenlosen dieser Welt. Einen Ort, der Zuflucht gibt denen, die verletzt wurden an Leib und Seele. Einen Ort, an dem die Gnade Gottes fließt wie strömendes Wasser, wie das Altarbild von Gerd Jähnke es so wunderbar darstellt.

Darauf abgebildet sind auch Menschen, von Stacheldraht umfangen. Sie sind nahe am Strom der Gnade. Eine Erinnerung an den Terror der Nationalsozialisten, für den Dachau – leider Gottes – ein Synonym wurde. Bei der Grundsteinlegung des Vorgängerbaus dieser Kirche auf dem Gelände des ehemaligen KZs bezog Pfarrer Ernst Daum die Gnade Gottes auf das Elend der Opfer des NS-Terrors:

„Dieser Ort soll eine bleibende Zufluchtsstätte zur Gnade werden. Flüchtlinge wissen, was es heißt, keine Zuflucht zu haben, vor gnadenlosen Peinigern fliehen zu müssen, von gnadenlosen Herren vertrieben zu werden. Flüchtlinge haben dann auch ein besonderes Ohr für das Wort: Bei dem Herrn ist die Gnade. … er wandelt diese Gewalt um in Güte und Gnade. Des zum sichtbaren Ausdruck wächst dieses Gotteshaus aus der Erde. Wie könnten wir ihm einen anderen Namen geben als den Namen: Gnadenkirche!“

 Eigentlich sind das gute Worte. Sie passen heute auch. Pfarrer Ernst Daum hatte allerdings selbst vor seinem Pfarrdienst in Dachau viele Jahre eilfertig die Deutschen Christen unterstützt und den Nazis gehuldigt. Das machte der Kirchenhistoriker Dr. Axel Töllner bei einem Vortrag hier in Dachau im Jahr 2011 bekannt. In der Gemeinde hatten viele Menschen Pfarrer Daub als guten Seelsorger in Erinnerung. Daher gab es hier viele Diskussionen – und das ist auch gut so. War es nun so, dass Pfarrer Daub seine Schuld gebüßt hat durch seine gute Arbeit hier? Oder muss man ihn doch anders bewerten, da er sich nie öffentlich zu seiner Vergangenheit erklärte? Ich möchte darüber kein Urteil sprechen und überlasse das unserem Herrgott. Mir ist wichtig, dass wir daraus für heute klare Konsequenzen ziehen. Die Landeskirche wird dazu in wenigen Tagen auch eine deutliche Erklärung abgeben: Wer sich heute mit menschenverachtenden, rassistischen, antisemitischen oder islamfeindlichen Positionen hervortut, in entsprechenden Parteien, auf Social Media oder wie auch immer, kann in unserer Kirche keine Aufgabe übernehmen. Nicht ehrenamtlich und nicht hauptamtlich. Das Christentum verkündet die Gnade Gottes für alle Menschen. Punkt.

Die Gnade Gottes in einer gnadenlosen Welt für alle Menschen. Das ist die erste Spur, auf die ich sie führen wollte.

Es gibt noch eine zweite Spur. Die kann man am besten entdecken, wenn man nicht das deutsche Wort Gnade nimmt, denn das hat einen eher formalen und etwas harten Charakter. Ganz anders das Englische. Da gibt es zwei Wörter: grace und mercy. Amazing Grace – wunderbare Gnade, ist eines der schönsten Gospellieder. Das kommt vom lateinischen Gratia und heißt Dank, Gnade und Anmut. Und mercy trägt neben der Gnade die Barmherzigkeit und die Liebe in sich. Beide Worte atmen nicht so sehr Juristenluft, sondern tragen Gefühlvolles in sich, Schönheit und die Ahnung von etwas Berührendem. Im Deutschen gibt es das auch, wenn wir davon sprechen, dass jemand begnadet ist. Wenn ich in einem Menschen etwas sehe, dass vielversprechend ist, ein Schatz an Begabungen, der noch geborgen werden muss. Ich selbst hatte das Glück, dass es in meinem Leben immer Menschen gab, die in mir schon etwas entdeckten, bevor ich selbst mir klar wurde, was ich kann.

Und darauf will ich hinaus: Die Gnade Gottes macht uns alle zu begnadeten Menschen. So wie wir hier sind, ist jede und jeder auf ihre und seine Art begnadet. Das ist unser Glaube: Gott hat in Dir die Fähigkeit zur Liebe angelegt, Du hast Talente, Du kannst Dinge, die anderen Menschen helfen, Du bist wichtig in dieser Gemeinde, Du bist begnadet.

Wenn so miteinander umgehen, wenn wir uns das gegenseitig sagen, wenn wir uns alle das von Gott sagen lassen – dann sind wir lebendige Kirchengemeinde.

Und sie leben das hier in Ihrer Kirchengemeinde, in Dachau-Ost, Hebertshausen, Schönbrunn, Röhrmoos und Großinzemoos.

Sie haben ein wirklich klasse Gemeindeleben hier, das diesen Zuspruch des Begnadeten in sich trägt. Es gibt vor allem um Dachau herum viel Zuzug und junge Familien. Die Konfirmandenarbeit ist lebendig – und das ist übrigens generell eines unserer kirchlichen Erfolgsmodelle. Die Jugendarbeit brummt, Ihr habt viele Teamer, die in der Jugendarbeit Verantwortung übernehmen. Super!

Auch für Seniorinnen und Senioren gibt es hier und sie sind begnadet – ihr Programm füllt zwei eng bedruckte Seiten im Gemeindebrief.

Sehr beeindruckend finde ich, dass es schon seit 47 Jahren einen engagierten Diakonie-Kreis gibt. Ehrenamtliche kümmern sich um einkommensschwache Menschen. Sie machen Besuche, auch im Seniorenheim Vor allem in der Pandemie haben Sie vom Diakonie-Kreis viel mitgeholfen, dass ganz viele Menschen besucht wurden. Vielen Dank dafür!

Die Gemeinde hat sich insgesamt auf den Weg gemacht, mit einer Geschäftsführung im Verbund mit den benachbarten evangelischen Gemeinden und einer guten Teamkultur. So habe ich es jedenfalls gehört. Wichtig ist auch die weitere enge Zusammenarbeit mit der Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte und die Erinnerungsarbeit an diesem Ort.

Die Ökumene ist hier wichtig, die Zusammenarbeit mit den katholischen Schwestergemeinden, mit dem Karmelkloster und der Caritas. Danke dafür, ganz ausdrücklich. In einer Welt, in der immer mehr gespalten wird, ist ökumenische Zusammenarbeit eine Gnade.

Dankbar bin ich für das große gegenseitige Interesse von Kommunalpolitik und Kirchengemeinde. Danke, dass Sie aus Dachau, den Orten und dem Landkreis heute da sind und mit uns als Kirche zusammenarbeiten. Es gibt viel zu tun.

Wir Christinnen und Christen leben aus Gottes Gnade. Wir sind alle begnadet. Das tut gut, zu wissen. Manchmal müssen wir uns daran erinnern. Immer wieder sagt Gott uns das zu. Und immer wieder ist das der schönste Grund zu feiern.

Gut also, dass es die Gnadenkirche gibt.

Amen.