Die Lage ist angespannt. 
Das haben wir vor allem zu Beginn der Corona-Krise in Deutschland oft gehört. Die Lage ist angespannt. Man fragt sich: Wie geht es weiter? 

Wie geht es weiter – mit den Ansteckungszahlen? Wie entwicket sich die Reproduktionsrate des Virus? Wie viele Menschen können die Krankheit besiegen? Bei wie vielen bleiben Schäden zurück?

Wie geht es weiter – im Job? Kann ich mein Unternehmen über die Krisenzeit retten? Werde ich meinen Arbeitsplatz verlieren? Und wie werden wir mit dem Kurzarbeitergeld als Familie über die Runden kommen?

Wie geht es weiter – in den Schulen? Wird mich bald wieder eine Lehrkraft entlasten und meinem Kind den Stoff erklären? Wann wird es für die Schüler wieder möglich sein, auf dem Pausenhof gemeinsam zu spielen? Wann kann mein Kind seine Freunde im Hort wiedersehen?

Wie geht es weiter – mit meinen Angehörigen, die unter der Einsamkeit leiden? Mit den Menschen, die im Krankenhaus liegen oder in den Pflegeheimen leben, alleine, ohne Besuch, vielleicht seit mehreren Wochen?

In dieser angespannten Lage lese ich eine Geschichte.

Der große Mönchvater Antonius lebte mitten in seiner Mönchsgemeinde am Rand der oberägyptischen Wüste. Einmal hatte er seine Mönche um sich versammelt, nicht zum Gebet, nicht zur Buße, nicht zum Gottesdienst, sondern einfach zu einem geselligen Beisammensein, zu einem gemütlichen Plausch.
Da kommt ein Jäger vorbei und wundert sich: „Da sieht man es wieder, typisch Mönche, stehen faul herum und arbeiten nicht!“

Antonius kommt mit ihm ins Gespräch und fordert ihn auf, einmal seinen Bogen zu spannen. Der Jäger gehorcht.
„Viel zu wenig!“, ruft Antonius. „Noch mehr spannen!“

Der Jäger folgt einer zweiten und dritten Aufforderung, dann weigert er sich: „Wenn ich den Bogen noch mehr spanne, zerbricht er.“
„Genauso ist es mit dem Menschen“, sagt da Antonius. „Wenn er seine Kräfte übermäßig anspannt, dann zerbricht er. Er muss entspannen, um anspannen zu können.“

(aus: Haverkamp, Cornelia (Hg.): Vom Duft der Rosenblüte und andere Weisheitsgeschichten, Gießen 112014)

Es ist anstrengend, den Bogen dauerhaft gespannt zu halten und dabei auch noch gut zu zielen! Das habe ich im vergangenen Jahr auf der Familienfreizeit der Gnadenkirche beim Bogenschießen-Workshop selbst erlebt.
Ich habe gemerkt: Ich muss mein Ziel anvisieren, bevor ich den Bogen spanne, um gut zu treffen. Denn nur dann kann ich die Spannung des Bogens gut nutzen. Und nur so kann ich verhindern, dass ich meine Muskeln zu viel beanspruche. 

Die Lage ist immer noch angespannt. 
Die Corona-Pandemie wird auch in den nächsten Monaten nicht einfach so zur Vergangenheit werden. 
Jetzt gilt es, mit der angespannten Lage gut umzugehen. Nach und nach öffnen nun Geschäfte wieder. Hoffentlich bringt das ein bisschen Entspannung für Selbständige und die, die um ihre Arbeit fürchten. In den Schulen kann wieder Unterricht stattfinden, wenn auch unter anderen Bedingungen als sonst. Das kann Eltern und Schüler entlasten.

Doch in manchen Punkten bleibt der Bogen gespannt. Und Entspannung ist nicht in Sicht. Aber eins ist klar: Mit einem überspannten Bogen wird jeder Pfeil das Ziel verfehlen.

Deshalb brauche ich auch die Momente der Entspannung und Entlastung. Wenn ein Witz meine Stimmung aufhellt oder wenn ein überraschender Anruf mir Kraft gibt. Oder wenn ich zufällig auf der Straße mit jemandem ins Gespräch komme, den ich lange nicht gesehen habe. Wenn man sich mit den Augen anlächeln kann, obwohl der Mund hinter einer Maske verborgen ist, das erfreut und entspannt mein Herz!

Ihre Vikarin Antonia Ehemann