Sie können sich diese Andacht auch einfach als Audio anhören:
Auf meinem Schreibtisch liegt ein Gedicht. Es liegt da seit ein paar Wochen, also schon bevor die Schreckensnachrichten über das Corona-Virus durch die Welt gingen.
Einige Verse davon sind mir in diesen Tagen wichtig geworden:
Wenn einer voller Leben ist,
dann helfe er den Schwachen,
so mancher Mensch kann fröhlich sein,
so mancher kann nicht lachen.
Wenn einer viel sein eigen nennt,
dann teil er’s mit den Armen,
so mancher lebt für sich allein,
so mancher braucht Erbarmen.
Lothar Zenetti: „Das Lied vom Geben und Nehmen“, in: Sieben Farben hat das Licht: Worte der Zuversicht, Verlag Matthias-Grünewald
„Das Lied vom Geben und Nehmen“ stammt von dem katholischen Priester und Dichter Lothar Zenetti. Jetzt fällt immer wieder mein Blick auf diese Zeilen und ich merke: Das erlebe ich gerade! Da kauft jemand für die Nachbarin ein oder führt den Hund aus. Eine andere näht Schutzmasken für eine Kinderklinik. Und wieder jemand anderes telefoniert ausführlich mit einem Bekannten und erkundigt sich, wie es ihm geht. In vielen kleinen Gesten zeigen sich zur Zeit Solidarität und Nächstenliebe. Es tut mir gut, davon zu hören. Die Energie steckt mich an – gerade in Momenten, in denen ich kraftlos bin.
An anderen Tagen kann ich selbst trösten und aufmuntern: „Diese Zeit geht vorüber.“ Und dann fangen wir an zu träumen:
- von all den Festen, die jetzt verschoben, aber später noch gefeiert werden
- von Spieleabenden und Besuchen
- von Reisen und Konzerten
und, und, und…
An erster Stelle wünschen wir uns natürlich, dass diese Tage vorüber gehen. Aber wir träumen davon, dass wir manches behalten:
- die Hilfsbereitschaft der Nachbarschaften
- das Genießen von Spaziergängen
- die Geduld und Freundlichkeit der Kunden an den Kassen im Supermarkt
- die Verlangsamung des Alltags
- die Selbstverständlichkeit von gut geregelter Telearbeit
- das Übersetzen von Nachrichten in Gebärdensprache
- die echte Wertschätzung von helfenden Berufen
- die gesellschaftliche Diskussion über den Wert von Arbeit
- die Gespräche, wo überall Arzneimittel und Lebensmittel produziert werden sollen
- Solidarität über Grenzen hinweg
und, und, und…
So stützen wir einander oder lassen uns helfen – mal so, mal so. Ich glaube, das ist im Moment wichtiger denn je. „Zum Geben und Nehmen will Gott uns befrein.“, beginnt Zenetti sein Gedicht. Recht hat er!
Bleiben Sie behütet!
Pfarrerin Christiane Döring